Geleitworte
Mit dem Beginn der nationalsozialistischen Terrorherrschaft im Jahre 1933 wurden zahlreiche Rechtsgelehrte insbesondere wegen ihrer jüdischen Herkunft aus Deutschland vertrieben. Aber auch vor 1933 waren sie an den Universitäten vielfach Übergriffen ausgesetzt, die oft von Studierenden ausgingen, die dem Nationalsozialismus nahestanden. Formale Grundlage für den Ausschluss vieler Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtswissenschaftler aus den Universitäten war das NS-„Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“. Den Betroffenen wurden dadurch ihre berufliche Stellung und damit auch ihr Lebensunterhalt genommen. Häufig verloren sie ihre akademischen Grade und wurden nicht nur aus der scientific community, sondern auch aus der Gesellschaft ausgegrenzt. Die Vertriebenen wurden teils ausgebürgert, teils waren sie faktisch gezwungen, ihr Leben und das ihrer Familien unter schwierigen Bedingungen im Ausland neu aufzubauen. Deutschland erlebte einen Exodus des innovativen Rechtsdenkens ungeahnten Ausmaßes.
Ab 1933 prägte stattdessen eine Juristengeneration die Rechtswissenschaft, die mit dem Naziregime mehr oder weniger intensiv kollaborierte bzw. dieses in den meisten Fällen zumindest billigte. Nur ausnahmsweise haben Gelehrte jede karriereförderliche Kooperation abgelehnt. Noch seltener war aktiver Widerstand oder jedenfalls klare Abgrenzung gegenüber dem NS-Regime. An der Machterhaltung der Nationalsozialisten hatten Juristen aller Berufsgruppen zentralen Anteil. Die Vernichtung der europäischen Juden wurde federführend von Juristen organisiert. Akademische Schreibtischtäter an den juristischen Fakultäten legitimierten die Ausgrenzung der Juden und bereiteten damit die Massenmorde vor.
Als die Nazi-Herrschaft mit dem Sieg der Alliierten im Jahre 1945 endete, waren zahlreiche emigrierte Rechtswissenschaftler verstorben, andere konnten sich eine Rückkehr nach Deutschland nicht mehr vorstellen. Das lag auch am Zustand der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Personelle Kontinuität wurde regelmäßig für wichtiger erachtet als moralische Integrität. Individuelle (Mit-)Schuld wurde verdrängt, stattdessen machte sich eine „Schlussstrich-Mentalität“ breit. Die als vordringlich empfundene Not des Nachkriegsalltags, aber auch die Scham über das Geschehene, trugen dazu bei, dass die Bereitschaft, die vertriebenen Rechtswissenschaftler an die juristischen Fakultäten zurückzuholen, meist nur gering ausgeprägt war.
Die Erinnerungs-Stelen nennen stellvertretend für die vielen vertriebenen Rechtsgelehrten die Namen einiger berühmter Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtswissenschaftler. Die Erinnerung an das Unrecht der Vertreibung wird gerade von der jungen Generation häufig als abstrakt empfunden. Dies liegt auch daran, dass die Kenntnis des konkreten Schicksals der Betroffenen fehlt, durch die deren Leiden auch emotional fassbar wird. Diese Empathie wollen die Stelen fördern. Die Studierenden begegnen noch heute rechtlichen Erkenntnissen dieser Wissenschaftler in den Vorlesungen. Mit Hilfe der Stelen erfahren sie außerhalb der Vorlesung, welche Lebensgeschichte mit diesen Erkenntnissen und ihren Urhebern verknüpft ist. Wer das Leben und Denken dieser Rechtsgelehrten kennt, wird das heutige Recht besser verstehen und dem Unrecht leichter widerstehen.
Die Universität Bayreuth wurde zwar erst dreißig Jahre nach Ende der Nazi-Herrschaft gegründet. Sie sieht sich gleichwohl in der Verantwortung, die Erinnerung an das Unrecht der vertriebenen Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtswissenschaftler wachzuhalten. Das liegt einerseits an der Geschichte der Stadt Bayreuth, andererseits an ihrem aktuellen Selbstverständnis als „Festspiel- und Universitätsstadt“. Vor allem nach 1933 durften zahlreiche Künstler auf dem Grünen Hügel wegen ihrer jüdischen Herkunft nicht mehr auftreten. Sie wurden zu „verstummten Stimmen“, an die in der Ausstellung am Festspielhaus erinnert wird. Die Stelen auf dem Campus der Universität Bayreuth erinnern an die „verstummten Stimmen“ der Rechtswissenschaft.
Prof. Dr. Kay Windthorst
Prof. Dr. Stephan Rixen